Offen für eine weitere Runde.

Zur Spielzeit 2003-2004
Offen für eine weitere Runde. Willkommen!

 

Das Glück für unsere Programmierung ist, dass wir aus einem grossen, vielfältigen und internationalen Angebot unsere Vorstellungen heraussuchen können, und dass dieser Markt in der jetzigen Finanzlage immer breiter wird … Für die Theater, die mit uns zusammenarbeiten können, wollen, mögen, dürfen, … oder auch ganz einfach noch tun, bedeutet dieses “Glück” eine Bühne, ein Fenster in der Schweiz und eine willkommene finanzielle Anerkennung für ihre Leistung. Jedes Projekt muss seine Finanzen in einem Gleichgewicht halten, theatralische Projekte sind als personalintensive Einrichtungen ganz besonders gefordert. Theater wird noch immer und zum Glück “live” mit Menschen gemacht … auch wenn sich Tendenzen abzeichnen, dass man es noch mehr “optimieren” könnte. Eine Gastierung ist also eine Gelegenheit der Kommunikation und des Marktes, und wenn die Rechnung aufgeht soll sie stattfinden. “Nur” an die finanzielle Rechnung zu denken wäre dabei naiv einseitig und würde sich derart rächen, dass das ganze Austauschgeschäft mit der Zeit schmerzlos weggespart werden könnte. Wer ein Fenster in die Schweiz sucht, sucht einen Ort der Präsentation. Das “Geschäft Theater” ist grundsätzlich kein finanzielles, was verhandelt wird ist die Kommunikation, die Beschäftigung mit einem literarischen Inhalt oder mit einem künstlerischen Programm, die Konfrontation verschiedener Haltungen. Unterschiedliche Unterprodukte wie Stücke, Inszenierungen und Projekte sind künstliche und im besseren Fall künstlerische Produkte und gelten oft als “das Theater”, aber natürlich rede ich hier vom “Theater” als Sammelbegriff sämtlicher Sparten aller Theaterkulturen wie Oper, Schauspiel, Ballett, Pantomime …

Als die chinesische Uhrenindustrie in diesem Frühjahr ihre Produkte aus SARS-Gründen hier in Europa nicht präsentieren durfte, war das ein grosses Verlustgeschäft für die dortige aufstrebende Wirtschaft. Beim Theater verhält es sich genau gleich. Zu Hause können sie anders produzieren wenn sie hier einen zusätzlichen Markt haben. Das heisst nicht immer nur “mehr”, das heisst auch anders, kompatibler, in unseren Dimensionen kommunikations- oder handelsfähiger. Erst dann geht die Rechnung auf, wenn beide Seiten etwas vom Austausch haben. Die “Reisemöglichkeit” an sich hat einen gewissen Wert. Das “zusätzliche Publikum” hat für das gastierende Theater einen bereits etwas höheren, aber erst die Reaktionen dieses neu gefundenen Publikums zeigt den eigentlichen Wert des Austauschs … Die Erkenntnis aus der Auswertung der Erfahrung als Einsicht für die weitere Arbeit an einem nächsten Projekt – das könnte dann vielleicht das höhere Ziel einer Gastspieltätigkeit sein. Und Häuser, die genau solches suchen haben wir, einige! Sie gehören zu unseren Stammgästen: Cottbus, Dessau, Berlin, Stuttgart, Bremen, Wien … auch Kiew! Neue kommen hinzu: München, Köln … und weitere werden folgen. Und die führen das gewisse Gespräch, suchen genau diese besondere Dimension. Die Zukunft ist offen … und wir sind bereit für eine weitere Runde wenn wir eine Idee haben und diese unseren Theater-Gästen und unseren Zuschauer-Gästen mitteilen können. Wenn die Begegnung aber nicht stimmt, nicht einrastet, nichts bewirkt also nicht zustande kommt … dann erübrigt sie sich sehr schnell, und auch das “preisgünstigste” Projekt ist dann noch viel zu teuer. So anspruchsvoll wollen wir sein können! Auch wenn wir in dieser Spielzeit anderen kulturellen Abteilungen der Stadt gegenüber überproportionierte finanzielle Einsparungen haben akzeptieren müssen. Wir mussten wiederholte schmerzliche Einschnitte ertragen: ein sehr interessantes Projekt “Theater in Residenz” mussten wir absagen, fast alle Aufführungen im reinen freien Verkauf stornieren, das zunehmend gewünschte Abonnement New-Jazz streichen, die französischen Aufführungen halbieren, die Vorstellungszahlen einiger Abonnements reduzieren … Von 94 Produktionen mit 168 Vorstellungen in der letzten Spielzeit mussten wir unseren Spielplan auf 75 Produktionen mit 142 Vorstellungen hinunterschrauben. Das war nicht leicht, und aus kulturellen Gründen war das überhaupt nicht attraktiv – als Konzentration in einer finanziell schwierigen Zeit mussten wir es leider in Kauf nehmen. Die Abonnenten haben es bisher sehr verständnisvoll aufgenommen, dafür möchten wir uns bei ihnen bedanken. Bei nächsten Programmierungen sollten wir nicht bei diesen Zahlen bleiben müssen, unser Theater Winterthur würde kulturell verarmen und gewonnene Relevanz verlieren.

Bei der chinesischen Uhrenindustrie hatte der Entscheid sicher eine bedauerliche finanzielle Auswirkung. Bei einem Theater fehlt bei gleicher Entscheidung zusätzlich noch eine ganze Seite: die Kommunikation steht zur Disposition. Können keine Uhren verkauft werden dann kann der Markt sich auf Windmühlen spezialisieren, auf Wasserpumpen oder auf Geschäftstüchtigkeit, und schon kann es irgendwie weiterbestehen. Kann das Theater nicht kommunizieren steht die Tätigkeit an sich, nicht das Produkt, zur Disposition. Im Strukturen-Vergleich wäre die Uhrenindustrie auf der Stufe der Theater-Sparten, die Uhren auf jener der Inszenierungen oder Choreographien. Eine gleichwertige Stufe höher bei der Industrie wäre vielleicht die “geistige menschliche Existenz an sich”, und wenn die zur Disposition steht, dann helfen natürlich auch keine Alternativen in der Produktgestaltung mehr.

Es wäre schlecht zu denken, dass wir mit unseren durchaus vorhandenen, realen finanziellen Problemen in der Schweiz und in der Stadt Winterthur an die Grenzen der menschlichen Existenz an sich angelangt wären. So weit sind wir hoffentlich noch lange nicht. Bei uns fehlt es an Kommunikationsfähigkeit wenn schon, an Lust und Motivation neu auf Inhalte zuzugehen, an Fantasie, unsere Gewohnheiten und unsere Rechte in neuem Kontext wahrzunehmen. Nicht an zu wenig Finanzen. Wir müssen wieder eine Daseins-Identität finden, dann finden wir auch die Energie, uns diese zu leisten. Wir müssen endlich wieder aus der allgegenwärtigen und alles dominierenden, ständigen Wahlkampfhaltung herauskommen, nach der Wahl sei vor der Wahl – nicht nur bei den “Volksvertretern”. Das Denken in unserer Gesellschaft ist im ständigen Konkurrenz- und Wahl-Kampf. Mit der Unterordnung sämtlicher Gespräche über Inhalte und Utopien unter die finanzielle Verwaltungs-Kontrolle lähmen wir die Lebensidentität an sich, die Lebenskraft, die Lebenslust. Und dann “grounden” wir sehr wahrscheinlich schneller als uns lieb ist, und wir es wahrhaben wollen.

Sind das Aussichten? Perspektiven? … Dann soll daraus Haltung entstehen: Wir brauchen mehr Kommunikation, Fantasie, Offenheit und eine höhere Qualität der Auseinandersetzung mit unseren menschlichen Möglichkeiten – wir brauchen “Einblicke und Einsichten …” um auf weitere Ideen und Energien zu kommen, wie wir mit uns umgehen können – wir brauchen mehr und nicht weniger Theater – wir brauchen mehr solches Theater, das diese Qualität der Lebensgestaltung pflegen und provozieren kann. Dann sind wir offen für eine weitere Runde. Bainvegnits!

 

Gian Gianotti
Künstlerischer Leiter