Finzi Pasca, GRENZGANG

1992     S / D / de / DEA

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Daniele Finzi Pasca:  GRENZGANG

Produktion des Mo Moll Theater Wattwil
Originaltitel: VIAGGIO AL CONFINE
Uraufführung: 1985 in Lugano

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MoMoll Theater Wattwil, Leitung: Jordi Vilardaga

Rohübersetzung:  Claudia Rüegsegger, Jordi Vilardaga
Spielfassung:  Gian Gianotti ..

 

Besetzung:

Sie: .  . Claudia Rüegsegger
Er: . . . .Jordi Vilardaga

Inszenierung und Bühne:  Gian Gianotti

 

Premiere:  18. März 1992 im Chössi-Theater Wattwil
Deutschsprachige Erstaufführung

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Bühnenbild und Kostüme: Ensemble nach einer Idee von Gian Gianotti
Bühnenmusik: Edward Grieg, Peer Gynt-Suite, Op.23

Requisiten, Bühnentechnik
sowie Betreuung der Vorstellungen:  Michael Oggenfuss

Plakat:  Thomas Freydl
Illustrationen im Programmheft:  Gabrielle Gern

Produktionsleitung:  Claudia Rüegsegger

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Es gibt Völker, die träumen; denen aber, die nicht träumen, bleibt das Theater.
(Jean Giraudoux)

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Zum Spiel im Grenzgang
Personen: ER, ein Mann, Angestellter und SIE, eine Frau, eventuell Kindergärtnerin

ER spiel ihn, SIE spielt sich.
Dazu ist ER sie, wenn SIE ihn nicht versteht
und ER ihr etwas über den Weg sagt, denn
dann spielt ER CHARON und SIE SELENE,
wenn SIE nicht gerade LIVIA vertritt.
Denn die ist in seinem Kopf, vor und nach der Vorstellung
und tritt nicht auf
aber ist ständig da und flattert herum
wie eben, und ER als CHARON ihr als SELENE von CARLA spricht
über das ER gerade fast gestolpert wäre, in der totalen Dunkelheit,
denn CARLA, so heisst das Huhn,
hätte ER, auch als Hecke verwandelter ISAAC,
eh nicht töten können, denn es hatte so schöne Augen.
Aber so kam das Publikum ums Essen,
denn zum Wein wollten sie doch etwas offerieren,
wenn es sich ihn doch bereits vorstellen konnte in den leeren Gläsern,
da er schon ausgetrunken war
bevor es, das Publikum,
auch nur von ihren jeweiligen LIVIAS oder anderen
hätte aufgefordert werden können
doch wenigstens einmal diese Theatergrenze,
die unsichtbare,
zu überschreiten …

das ist, das war  Daniele Finzi Pasca  … 1986 in seinem  VIAGGIO AL CONFINE,
und mit dieser Welt wollten wir uns einmal abgeben, im “grossen” Theater mit nichts als allem.

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ZUR  INSZENIERUNG  IN  DEN  KÖPFEN

These: Ich will wieder meine Klassiker sehen, sehen was ich sah, was für mich das Eigentliche war, was war, wahr war. Ich. Für mich.
Antithese: Mein Theater ist die Kunst der Anderen.

GRENZGANG.

Das Stück ist eine Reise in die Fantasie, in die Erinnerung. Bilder werden kaum gezeigt, Stimmungen entstehen, werden zugelassen, geben einen individuellen Sinn ab, wahr für den, der sich Ich nennen kann, der sich eine Assoziationsfähigkeit entwickeln, der sich selber Publikum und Zuschauer sein kann … und besonders für jenen, der das Stück zum ersten Mal sieht, hört, und offen ist für ganz Anderes.

Es wird von einer Erfahrung erzählt, wie einer ins Theater kam und gar kein Theater gesehen hat, sondern verführt wurde in einen weiteren Raum, den wir als Raum der Erinnerungen bezeichnen können, ins Requisitenlager oder in sich hinein. Dorthin jedenfalls, wo man gewöhnlich Erinnerungen, alte Beziehungen, nicht mehr Bewusstes hin- und ablegt … Und da findet er im Chaos eine Ordnung, unter dem Staub der Zeit findet er seine sehr lebendigen “déjà vues”, er findet seine Beziehung zu den Dingen, die daliegen, erfindet seine Dinge, seine Vergangenheit, seine Grossmutter, alte Regeln, kindliche Fragen.

Das Theater wird zum Erlebnis, Unterhaltung suchend wird der Zuschauer mit seiner eigenen Sensibilität konfrontiert. Anstatt sich den Alltag verdrängen zu können, taucht er ein in eine neue Art der Lebendigkeit – lässt sich gehen, ist neugierig, offen, assoziativ, ist sich selber in seinen Geschichten.

Eine Inszenierung? Eine Geschichte. Eine Reise in die grösste Dimension, die wir Menschen überhaupt erreichen können – in unsere eigene Fantasie. Und das Theater ist die Einladung dazu, die Brücke. Es sind einige Einstiegsflächen da, und dort einige Schwingungen, eine kleine gesicherte Ordnung für die Gestaltung des gemeinsamen Spiels und Erzählens. Aber sonst suche ich die grösstmögliche Offenheit für die Individualität und arbeite gegen die Idee, dass Theater nur auf der Bühne stattfinden kann, und dass alles, was auf der Bühne passiert, auch “das Theater” sei – Ich suche die Unterebene, das Fundament, und erdenke mir die Konstruktion darauf, erdichte, erfinde, erstelle. Ich. Meine. Von diesen Aussagen natürlich unterstützt, aber ich suche meine Geschichte: Ich, der Zuschauer.

Gian Gianotti, Januar 1992

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Texte aus der Schatulle “Dramaturgie”, die uns während der Inszenierung, bei der Suche nach den Übergängen zwischen “Realität, Theater, Fantasie und Traum” begleiteten und anspornten:

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Das Theater, ein Traum  von Robert Walser

Das Theater gleicht einem Traum. Im griechischen mag es anders gewesen sein; unseres ist von einem dachbedeckten, dunklen Haus geheimnisvoll und fremdartig eingeschlossen. Man tritt hinein, tritt nach ein paar Stunden wie aus einem merkwürdigen Schlaf wieder heraus, in die Natur, in das wirkliche Leben, und ist dann dem Traum entflohen.

Im Traum haben die Bilder, die einem vor dem Auge entstehen – es mag das Auge der Seele sein -, etwas Scharfes, Festgezeichnetes. Raumhaft natürliche Perspektiven, einen realen Erdboden, frische Luft gibt es da nicht. Man atmet Schlafstubenluft, während man über Berge schreitet wie der Mann mit den Siebenmeilenstiefeln. Es ist alles verkleinert, aber auch verschrecklicht im Traum; ein Gesicht hat meistens einen erschütternd bestimmten Ausdruck: furchtbar süss, wenn es ein süsses und wohlwollendes, furchtbar abstossend, wenn es ein, Furcht und Entsetzen einflössendes ist. Im Traum haben wir die ideale dramatische Verkürzung. Seine Stimmen sind von einer entzückenden Schmiegsamkeit, seine Sprache ist beredsam und zugleich besonnen; seine Bilder haben den Zauber des Hinreissenden und Unvergesslichen, weil sie überwirklich, zugleich wahr und unnatürlich sind. Die Farben dieser Bilder sind scharf und weich zugleich, sie schneiden mit ihrer Schärfe ins Auge wie geschliffene Äpfel und sind einen Moment nachher schon wieder zerflossen, so dass man oft, träumend sogar, bedauert, dieses und jenes so schnell verschwinden zu sehen.

(…) Wir sind so gern in dunklen, nachdenklichen Löchern. Nicht diese Vorliebe ist eine Schwäche; unsere Schwäche besteht vielmehr darin, uns solcher Vorlieben zu schämen.

Sind nicht auch die Dichtungen Träume, und ist denn die offene Bühne etwas anderes als ihr grossgeöffneter, wie im Schlaf sprechender Mund? Während des anstrengenden Tages treiben wir in den Strassen und Lokalen unsere Geschäfte und nützlichen Absichten vor uns her, und dann finden wir uns in den engen Sitzreihen wie in engen Betten zum Schauen und Hören ein; der Vorhang, die Lippe des Mundes, springt auf, und es brüllt, zischt, züngelt und lächelt uns befremdend und zugleich herzensvertraulich an; es setzt uns in eine Erregung, deren wir uns nicht bemeistern mögen und können, es macht uns krümmen vor Lachen oder erbeben vor innerlichem Weinen. Die Bilder flammen und brennen vor den Augen, die Figuren des Stückes bewegen sich übernatürlich gross, wie nie gesehene Gestalten, vor uns. Das Schlafzimmer ist dunkel, nur der offene Traum glänzt in dem starken Licht, blendend, redend, dass es einen zwingt, mitoffenem Munde dazusitzen.

Wie melodiös sind Farben im Traum! Sie scheinen Gesichter zu werden, und plötzlich droht, schluchzt oder lächelt eine Farbe; ein Fluss wird zu einem Pferd, und das Pferd will mit seinen behuften Füssen eine enge Treppe emporsteigen, der Reiter zwingt es, man verfolgt ihn, man will ihm das Herz aus dem Leib reissen, man kommt näher, aus der Feme sieht man die Mörder herstürmen, namenlose Angst packt einen an – der Vorhang sinkt.

(…) O, wie der Traum göttlich schauspielert! Er gibt vom Entsetzlichen das unanfechtbar reine Bild wie vom Süssen, Beklemmenden, Wehmutvollen oder Erinnerungsbangen. Zu den Empfindungen, Personen und Tönen malt er sofort Schauplätze, zu dem süssen Geplauder einer edlen Frau deren Gesicht, zu den Schlangen die seltsamen Kräuter, worunter sie grauenhaft hervorkriechen, zu dem Geschrei von Ertrinkenden die schwermutvolle abendliche Fluss- und Uferlandschaft, zum Lächeln den Mund, der es ausdrückt.

Manchmal sehen wir nur Züge, Linien, manchmal nur Augen; dann kommen die blassen Züge und umrahmen die Augen, dann die wilden, schwarzen Haarwellen und begraben das Gesicht; dann ist es wiederum nur noch eine Stimme, dann geht eine Tür auf; es stürzen zweie herein, man will erwachen, aber unerbittlich dauert das Hereinstürzen fort. Momente gibt es im Traum, deren Erinnerung wir im Leben nie vergessen können.

So wirkt auch das Theater mit seinen Gestalten, Worten, Lauten, Geräuschen und Farben. Wer möchte zu einer holdseligen Liebesszene den üppig verwachsenen Garten vermissen, zu einem Mord die dunkle Wand der Gasse, zu einem Schrei das Fenster, durch welches er ausgestossen werden kann, zum Fenster, die zärtlich und frauenhaft weisse Gardine, die es verfenstert und verzaubert und wieder vernatürlicht? Schneelandschaften, nächtliche, liegen auf der Bühne, dass man glauben sollte, sie erstrecken und dehnen sich meilenweit; ein Eisenbahnzug mit rötlich schimmernden Waggonfenstern zieht vorüber, ganz langsam, als zöge und winde er sich in weite Feme, wo das Schnelle dem Auge nicht schnell entfliehen will. Feme und Nähe sind im Theater dicht nebeneinander. Zwei Schurken flüstern immer zu laut; der edle Herr hört alles, und er stellt sich doch ahnungslos. Das ist das Traumhafte, das wahre Unwahre, das ergreifende und zu guter Letzt das Schöne, Wie schön ist es, wenn zwei Kerle laut brüllend miteinander flüstern, während des anderen Gesichtszüge sagen: wie still ist es rings umher!

Solches ähnelt den grausigen und schönen Geschichten im Traum. Die Bühne setzt alles daran, zu erschrecken; sie tut gut daran, das zu beabsichtigen, und wir tun gut, das Etwas in uns zu hüten, das uns den Genuss und den Schauder dieses Schreckens noch empfinden lässt.

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Eine Predigt!  von Federico Garcia Lorca

Ja, eine Predigt! Warum sollen wir immer ins Theater gehen, um zu sehen, was geschieht? Der Zuschauer ist zufrieden, weil er weiss, dass sich das Stück um ihn nicht kümmert; aber wie schön wäre es, wenn man ihn plötzlich von den Brettern aus anriefe und ihn zum Sprechen brächte und die Sonne der Bühne dem hinterhältigen Kerl in sein bleiches Gesicht schiene!

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Der Schmetterling  von Tschuang Tse

Ich, Tschung Tse, träumte einst, ich sei ein Schmetterling, ein hin und her flatternder, in allen Zwecken und Zielen ein Schmetterling. Ich wusste nur, dass ich meinen Launen wie ein Schmetterling folgte, und war meines Menschenwesens unbewusst. Plötzlich erwachte ich, und da lag ich: wieder “ich selbst”. Nun weiss ich nicht: war ich da ein Mensch, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder bin ich jetzt ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch? Zwischen Mensch und Schmetterling ist eine Schranke. Sie überschreiten ist Wandlung genannt.

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(…) Eines Tages, …  von Michael Ende

… vor einigen Jahren, schneit mir ein Brief vom Duttweiler Institut ins Haus, ein sehr schön gelegenes Institut, in dem Tagungen über alle möglichen sozialen, politischen und sonstigen Themen veranstaltet werden. Die Tagung, von der ich jetzt spreche, lief unter dem Thema “Die Rationalisierungsfalle”. Zu dieser Tagung waren etwa zweihundert Top-Manager aus ganz Europa eingeladen, auch Gewerkschaftsleute und einige vom Club of Rome. Es ging bei der ganzen Sache um die Microprozessoren, die damals gerade aufkamen und die praktisch als dritte industrielle Revolution gewertet wurden.

Ich war einigermassen erstaunt, dass die Veranstalter gerade mich einluden, an dieser Tagung teilzunehmen. Wie sie mir schrieben, brauchten sie jemand, der Gretchenfragen stellt, also als Nichtfachmann ganz unbefangen und sozusagen naiv den Problemen gegenübersteht.

An der Tagung wurde zuerst schwer über alle möglichen Fragen des Wirtschaftswachstums diskutiert. Es war eine heftige und ziemlich groteske Diskussion. Nach dem Abendessen sollte der gemütliche Teil kommen, und da war ich endlich an der Reihe. Ich las erstmal den Managern zur allgemeinen Verblüffung ein Kapitel aus der Momo vor, die Stelle mit Herrn Fusi, dem Friseur. Danach herrschte Ratlosigkeit im Saal. Man wusste nicht so recht, was das sollte, dass ihnen da einer plötzlich ein Märchen vorliest. Also fingen die Leute an, über den literarischen Wert oder Unwert der Sache zu diskutieren. Ich sagte: Meine Herren, ich glaube nicht, dass man mich aus diesem Grund zu Ihrer Tagung eingeladen hat. Die vorgelesene Stelle aus meinem Märchenroman sollte nur eine Anregung sein. Mir fällt auf, dass in unserem ganzen Jahrhundert kaum eine positive Utopie mehr geschrieben worden ist. Die letzten zumindest positiv gemeinten Utopien stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Denken Sie etwa an Jules Verne, der noch glaubte, dass der technische Fortschritt den Menschen tatsächlich glücklich und frei machen könnte, oder an Karl Marx, der dasselbe von der Perfektion des sozialistischen Staates erhoffte. Beide Utopien haben sich inzwischen selbst ad absurdum geführt. Sieht man sich aber die Utopien an, die in unserem Jahrhundert geschrieben worden sind, angefangen von der “Zeitmaschine” von Wells über “Brave New World” von Huxley bis zu “1984” von Orwell, so finden wir nur noch Alpträume. Der Mensch unseres Jahrhunderts hat Angst vor seiner eigenen Zukunft. Er fühlt sich dem, was er selbst geschaffen hat, offenbar hilflos ausgeliefert. Es wird nur noch in Sachzwängen gedacht. Und Zwänge machen Angst. Das Gefühl der Hilflosigkeit ist so gross, dass wir nicht einmal mehr wagen, uns zu überlegen, was wir uns eigentlich wünschen.

Und deshalb möchte ich Ihnen, die Sie ja nun den ganzen Tag über Zukunftsfragen diskutiert haben, folgenden Vorschlag machen: Setzen wir uns doch einmal alle gemeinsam auf einen grossen Teppich und fliegen hundert Jahre in die Zukunft. Und jetzt soll jeder sagen, wie er sich denn nun wünscht, dass die Welt dann aussehen soll. Mir scheint nämlich, solange immer nur innerhalb der Sachzwänge argumentiert wird, wie heute den ganzen Tag, dann stellt man überhaupt nicht mehr die Frage, was wir überhaupt für wünschenswert halten. Wenn wir alle gemeinsam etwas Bestimmtes wollen, dann finden sich auch Mittel und Wege, es zu verwirklichen. Wir müssen nur wissen, was! Jeder soll sagen, wie er sich die zukünftige Welt wünscht

Fünf Minuten Schweigen – peinliches Schweigen. Schliesslich stand einer auf und sagte: Was soll der Quatsch? Das hat doch überhaupt keinen Sinn, wir müssen auf dem Boden der Tatsachen bleiben, und die Tatsachen sind eben die, dass wir, wenn wir nicht mindestens drei Prozent Wachstum im Jahr haben, nicht mehr konkurrenzfähig sind und wirtschaftlich zugrunde gehen. Ich sagte, das haben Sie jetzt den ganzen Tag über diskutiert, Sie werden morgen und übermorgen weiter darüber diskutieren, jetzt wollen wir das einen Augenblick vergessen und dieses Zukunftsspiel spielen. Aber das war nicht zu machen, im Gegenteil! Die Situation wurde so prekär, so mulmig, dass die Veranstalter den Versuch nach einer halben Stunde von sich aus abbrechen mussten, weil die Leute anfingen, mich zu beschimpfen und aggressiv zu werden.

Dieses Erlebnis hat mir viel zu denken gegeben. Ich glaube, es sind nicht nur diese Wirtschaftsleute, die heutzutage in einem ganz bestimmten Kreislaufdenken regelrecht gefangen sind, und dieser Kreislauf wird angetrieben durch Vorstellungen der Macht und der Angst, das heisst entweder überwältigen uns die anderen, dann sind wir verloren, oder wir überwältigen die anderen, dann gewinnen wir einen kleinen Vorsprung in diesem Wettlauf. (…)”

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Der Traum des Träumers  von Gabriel García Márquez

Vor Jahren schon wollte ich die Geschichte eines Mannes schreiben, der sich für immer in den Träumen verirrte. Der Mann träumte, er schliefe in einem Zimmer, welches dasselbe war, in dem er in Wirklichkeit schlief, und in diesem zweiten Traum träumte er auch, dass er schlief und denselben Traum in einem dritten Zimmer träumte, das den beiden vorhergehenden glich. In diesem Augenblick ertönte der Wecker auf dem Nachttisch der Wirklichkeit, und der Schlafende begann zu erwachen. Hierzu musste er natürlich aus dem dritten in den zweiten Traum erwachen, doch liess er dabei so viel Vorsicht walten, dass der Wecker im Zimmer der Wirklichkeit aufgehört hatte zu wecken, als er erwachte.

Als er nun vollständig erwacht war, zweifelte er einen Augenblick an seinem Verlorensein: Das Zimmer war den andern aus seinen überlagerten Träumen so ähnlich, dass er keinen Grund finden konnte, nicht daran zu zweifeln, dass auch dieser ein geträumter Traum war. Zu seinem grossen Unglück beging er deshalb den Irrtum, wieder einzuschlafen, begierig darauf, das Zimmer des zweiten Traums zu erforschen, um zu sehen, ob er dort ein sicheres Indiz der Wirklichkeit finden würde, und als er es nicht fand, schlief er wieder im zweiten Traum ein, um die Wirklichkeit im dritten zu suchen und danach in einem vierten und in einem fünften.

Schon mit den ersten Anzeichen begann er, von dort aus rückwärts aufzuwachen, vom fünften Traum in den vierten und vom vierten in den dritten und vom dritten in den zweiten, und in seinem sinnlosen Drang erinnerte er sich nicht mehr an die überlagerten Träume und befand sich lange Zeit in der Wirklichkeit. In Zimmern, die nicht mehr vor, sondern hinter der Wirklichkeit lagen. Verloren auf dem endlosen Gang mit denselben Zimmern, schlief er für immer ein und wanderte von einem Ende seiner unzähligen Träume zum anderen, ohne dass er die Tür zum Ausgang in das wirkliche Leben fand, und der Tod war seine einzige Erlösung in einem Zimmer, dessen genaue Nummer niemals mit Sicherheit festgestellt werden konnte.

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Alle Vorhänge im Theater …  von Hans Weigel

… fallen um Bruchteile von Sekunden zu spät. Der Rest fällt zu früh. Dem Vernehmen nach soll in den zwanziger Jahren einmal in einem Theater der Vorhang dank einer Kettenreaktion von Missverständnissen im richtigen Moment gefallen sein, aber das glaube ich nicht.

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Everything and Nothing  von Jorge Luis Borges

In ihm war niemand; hinter seinem Gesicht (das auch auf den schlechten Gemälden seiner Zeit wie kein anderes aussieht) und hinter seinen Wörtern, die zahlreich, phantastisch und wildbewegt waren, gab es nicht mehr als ein wenig Kälte, einen von niemandem geträumten Traum. Am Anfang glaubte er, alle Personen seien wie er, aber das Befremden eines Kameraden, mit dem er auf diese Leere zu sprechen kam, enthüllte ihm seinen Irrtum und hinterliess ihm für immer das Gefühl, dass ein Individuum nicht von der Gattung abweichen dürfe. Manchmal glaubte er, dass er in Büchern das Heilmittel für seine Leiden fände, und so erwarb er sich das geringfügige Latein und das noch geringfügigere Griechisch, von dem ein Zeitgenosse sprechen sollte; dann kam er auf den Gedanken, dass in der Durchführung eines urtümlichen Ritus der Menschheit das, was er suchte, sehr wohl enthalten sein möchte, und liess sich von Anne Hathaway einweihen im Laufe einer langen Juni-Siesta. Als er einige zwanzig Jahre alt war, ging er nach London. Instinktiv hatte er sich schon angewöhnt, so zu tun, als sei er jemand, damit seine Niemandsverfassung nicht entdeckt würde: in London fand er den Beruf, für den er prädestiniert war, den des Schauspielers, der auf einer Bühne so tut, als sei er ein anderer, vor einer Ansammlung von Leuten, die so tun, als hielten sie ihn für jenen anderen. Die Gauklerpflichten lehrten ihn eine einzigartige Fröhlichkeit, die erste vielleicht, die er kennenlernte; wenn jedoch der letzte Vers beklatscht und der letzte Tote von der Szene weggetragen war, suchte ihn der verhasste Geschmack von Unwirklichkeit aufs Neue heim. Er hörte auf, Ferrex zu sein oder Tamerlan und wurde wiederum zu niemand. In seiner Bedrängnis begab er sich daran, andere Helden und andere tragische Fabeln zu ersinnen. Während so der Körper seinem körperlichen Geschick oblag, in Freudenhäusern und Schänken Londons, war die Seele, die ihn bewohnte, Caesar, der auf die Weissagung des Auguren nicht hört, und Julia, die die Lerche verabscheut, und Macbeth, der sich auf der Heide mit den Hexen bespricht, die gleichzeitig die Parzen sind. Niemand war so viele Menschen wie dieser Mensch, der gleich dem Agypter Proteus alle Erscheinungen des Seins zu erschöpfen vermochte. Zuweilen hinterliess er in einem versteckten Winkel des Werks ein Bekenntnis, überzeugt, dass es unenträtselt bleiben würde; Richard behauptet, dass er in der Einzahl seiner Person die Rolle vieler spielt, und Jago tut den sonderbaren Ausspruch: ‘Ich bin nicht, der ich bin’. Die grundsätzliche Identität von Dasein, Träumen und Darstellen inspirierte ihn zu Stellen, die berühmt geworden sind.

Zwanzig Jahre lang verharrte er in dieser planmässigen Halluzination, aber eines Morgens überkamen ihn Überdruss und Grauen, so viele Könige zu sein, die durch das Schwert umkommen, und so viele unglückliche Liebende, die zueinander finden und auseinander streben und melodisch dahinsterben. Noch am gleichen Tag beschloss er, sein Theater zu verkaufen. Vor Ablauf einer Woche war er in seinen Geburtsort zurückgekehrt, wo er die Bäume und den Fluss seiner Knabenzeit wieder in Besitz nahm und sie nicht mit jenen anderen verknüpfte, die seine Muse gerühmt hatte, und die im Widerschein mythologischer Anspielung und lateinischer Worte standen. Irgendwer musste er nun einmal sein; so war er ein Impresario im Ruhestand, der zu Vermögen gekommen ist, und der sich für den Geldverleih, die Händel und die kleinen Wuchergeschäfte interessiert. Als solcher setzte er das dürre Testament auf, das wir kennen, und aus dem er geflissentlich jeden poetischen oder literarischen Zug verbannte. Freunde aus London besuchten ihn gelegentlich in seiner Zurückgezogenheit, und ihnen zuliebe griff er auf die Rolle des Poeten zurück.

Die Geschichte weiss übrigens zu vermelden, dass er sich vor oder nach dem Sterben im Angesicht Gottes wusste und zu ihm sprach: “Ich, der ich vergebens so viele Menschen gewesen bin, will nur einer und Ich sein.” Die Stimme Gottes sprach zu ihm aus einem Wirbelsturm: “Auch Ich bin nicht; ich habe die Welt geträumt, wie du, mein Shakespeare, dein Werk geträumt hast, und unter den Gebilden meines Traums bist du, der du wie ich viele und niemand bist.”

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Aus: Warten auf Godot  von Samuel Beckett

(…) Estragon schläft ein. Wladimir bleibt vor Estragon stehen.

WLADIMIR Gogo… Stille. Gogo… Stille. GOGO!

ESTRAGON Fährt aus dem Schlafe auf und wird so wieder in seine schaudervolle Situation zurückversetzt: Ich schlief. Vorwurfsvoll. Warum lässt du mich nie schlafen?

WLADIMIR Ich fühlte mich einsam.

ESTRAGON Ich hatte einen Traum.

WLADIMIR Erzähl ihn nicht.

ESTRAGON Ich habe geträumt…

WLADIMIR ERZAHL IHN NICHT!

ESTRAGON auf das Universum zeigend: Genügt dir dieser? Schweigen. Es ist nicht nett von Dir, Didi. Wem soll ich denn meine privaten Alpträume erzählen, wenn nicht Dir?

WLADIMIR: Sie sollen privat bleiben. Du weisst gut, dass ich das nicht vertrage.

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Traum und Realität  von Christoph Wulf

Die Fähigkeit, zwischen Traum und Realität unterscheiden zu können, ist eine, die erst mit einem gewissen Entwicklungsstand des Bewusstseins erreicht wird und über die, der am 26. Mai 1828 auf dem Marktplatz in Nürnberg gefundene Kaspar Hauser noch nicht verfügt hat. Von ihm berichtete Anselm Ritter von Feuerbach folgende Äusserung: “… das Bett sei das einzige Angenehme, das ihm noch auf dieser Welt vorgekommen, alles Übrige sei gar schlecht. – Erst seit er in einem Bette schlief, hatte er Träume, die er aber anfangs nicht für Träume erkannte, sondern beim Erwachen seinem Lehrer als wirkliche Begebnisse erzählte, indem er zwischen Wachen und Träumen erst später einen Unterschied zu machen lernte.”

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Ideale  von Federico Fellini

Der Verfall der Mythen ist vielleicht nur ein vorübergehender Spuk, aber man spürt, dass die reine Energie über sie hinweggeht. Wenn man Masken und Monstren an sich vorüberziehen lässt, sieht man einige verblassen, andere stürzen; es sind die, von denen man nichts mehr weiss. Die Moralisten jammern und finden, es sei ein Skandal, aber etwas wenigstens ist dabei gewonnen: eine gewisse Ordnung hat sich überlebt.

Wir projizieren auch weiterhin idealisierte Bilder über die Dinge, die wir sehen. Die Ideale kaschieren die Wirklichkeit. Es gibt nichts Ideales, keine ideale Frau, kein ideales Paar, keine ideale Stätte, keine ideale Situation: bei allem kommt es darauf an, dass man mit seinen Problemen zu leben lernt.

Wir respektieren auch weiterhin Werte und allgemeine Prinzipien, die uns zu nichts mehr nützen. Im Leben gibt es nur Einzelfälle, nach denen man sich nach Möglichkeit richten muss.

Der gegenwärtige Zersetzungsprozess der Gesellschaft erscheint mir durchaus normal: für mich ist er kein Zeichen des Untergangs, sondern ein Zeichen von Leben. Das Leben besteht aus Umwandlungen. Man sollte diese hier sogar beschleunigen, sie so vollziehen, wie man es mit der Nahrung macht. Revolte ist immer fruchtbar. Nur die Revolte trägt die organische Notwendigkeit, sich Ausdruck zu schaffen, in sich. Billigung hingegen führt zu Indifferenz. Man schläft dabei ein.

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Was ist denn ein Künstler  von Federico Fellini

Nichts anderes als ein Provinzler, der sich zwischen einer physischen und einer metaphysischen Wirklichkeit befindet. Vor einer metaphysischen Wirklichkeit sind wir alle Provinzler. Wer ist denn schon Bürger der Transzendenz, wer? … Heilige. Und diese Grenzlinie des Zwischenreichs möchte ich Provinz nennen, diese Grenze zwischen der Welt des Wahrnehmbaren und der Welt des übersinnlichen – die eben ist das Reich des Künstlers.

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Pressestimmen: 

>>>  Neues Programm auf neuer Bühne  Der Toggenburger, ms  20.3.92
>>>  Premiere – doch der Vorhang blieb zu  St.Galler Tagblatt, Liliane Schär  20.3.92
>>>  ‘Grenzgang’ Mo Moll Theater  Klibühni Schnidrzumft Chur  24. & 25. 9.92
>>>  Reise ins Reich der Phantasie  Bündner Zeitung, gu.  26.9.92
>>>  Eine Rumpelkammer voller Träume  St.Galler Tagblatt, Peter Surber  29.9.92
>>>  Phantasien und Träume  Schaffhauser Nachrichten, Ursula Noser  28.11.92
>>>  Zwischen Fiktion und Realität  Der Landbote, Esther Reutimann  30.11.93

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